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Wären wir in einer idealen Welt, würde ich diesen Artikel gar nicht schreiben. Ich würde mir sagen, das geht eigentlich keinen was an bzw. interessiert sowieso keinen. In etwa das, was ich mir sagen würde, wenn ich auf die blödsinnige Idee kommen würde, einen Artikel darüber zu schreiben, dass ich Linkshänder bin.

Aber: wir leben bekanntlich nicht in einer idealen Welt. Und deshalb will ich mit diesem Artikel ein paar häufige Fehleinschätzungen und grundlegende falsche Ansichten auseinandernehmen. Und weil ich sowieso gerade dabei bin, kann ich auch direkt das Nützliche mit dem Sinnlosen verbinden und ein bisschen was über mich erzählen.

Ich bin schwul...

So könnte ein typisches "Aha"-Gespräch anfangen (das ist die Art von Gespräch, bei dem eine Partei irgendwas erzählt und die andere in Abständen mit dem Kopf nickt und auf das eigentliche Thema wartet), oder eine Fragestunde, oder auch ein Ausgrenzungsproblem. Ich habe noch nie ein Gespräch mit diesen Worten begonnen, aber ein sehr ähnliches Gespräch ging mal in Variante zwei, die Fragestunde, über.

Muss aber nicht automatisch so sein. Jarle Aase, ein norwegischer Softwareautor, schreibt auf seiner Internetseite "Jgaa's Internet", dass er selber in dieser Hinsicht regelmäßig mit schwachsinnigen Reaktionen konfrontiert wird. Obwohl gar kein Grund besteht, wie er in seinem Artikel auch (sinngemäß) schreibt: "manche Leute haben Probleme damit, einen Schwulen als irgendetwas anderes als das anzusehen -- schwul. In Wirklichkeit esse ich, schlafe ich, arbeite ich, verliebe ich mich, kämpfe ich, sehe ich mir Filme an, höre ich mir Musik an wie jeder andere auch. Schwul sein ist kein Lebensstil. [...] Es bedeutet nur, dass wenn ich mich verliebe, ich mich in einen anderen Mann verliebe." Da dies schlichte Fakten sind, werde ich nicht weiter darauf eingehen.

Kommt dieses ganze Thema für dich überraschend? Dann hast du nicht genau hingesehen. Vielleicht hilft dir das hier auf die Sprünge:

Abb. 1: Wörterbuch

Wie ist's passiert?

Keine Ahnung. Bei Streifzügen durch's Internet habe ich schon jede Variante gefunden, die meisten besagen aber sowas wie "ich habe schon immer gewusst, dass ich schwul bin, aber es nie richtig wahrgenommen". Möglicherweise etwas übertrieben, wenn man bedenkt, dass sich die Sexualität nicht sofort zu Beginn des Lebens voll entwickelt. Meine erste "schwule Erinnerung", die ich allerdings erst im Nachhinein so nennen kann, stammt aus dem Sommer 2000. Details kann ich natürlich mit Rücksicht auf die anderen Beteiligten nicht verraten (nein, es ist nichts "passiert"). Davor erinnere ich mich nur an Fragmente, die für sich keine große Aussagekraft haben.

In besagtem Sommer war ich gerade noch 16 und wurde ein paar Wochen später 17 Jahre alt. Davor habe ich schlicht keine Leute angeglotzt. Zumindest nie, weil ich sie unbeschreiblich schön (oder so ähnlich) gefunden hätte. Das kam sowieso erst über ein halbes Jahr später. Im Nachhinein betrachtet ist das eigentlich alles eine ziemlich lustige Geschichte. Als ich das erste Mal darüber nachgedacht habe, ob ich schwul wäre, saß ich in der Bahn, auf dem Weg nach Hause von der Schule. Es war kein Schock, aber irgendwie schon eine Überraschung. In den nächsten Tagen ging das mit dem Glotzen los -- ausnahmslos auf Jungs! Damit hätte der Fall schon klar sein können, aber mir reichte das noch nicht. Ich habe noch einige Wochen den einen oder anderen Gedanken immer wieder im Kopf hin- und hergewälzt und irgendwann zwischen dieser Zeit und jetzt war ich ziemlich überzeugt.

Trotzdem bin ich bis jetzt noch nie verliebt gewesen. Und das ist auch heute noch der Grund, warum ich mich nicht endgültig festlegen will (und auch nie restlos überzeugt sein werde). Wie ich mein übliches Glück kenne, kommt das dicke Ende erst noch und irgendwie ist dann doch alles ganz anders und viel durcheinanderer.

Wie war das so?

Vorlauf: nicht weiterzuempfehlen. Bevor ich auf die glorreiche Idee gekommen bin, dass ich schwul sein könnte, war ich monatelang extrem deprimiert. Warum, kann ich nicht sagen, die wenigsten Depressionen liefern Begründungen mit. Ich könnte vermuten, dass es an dieser (unterdrückten? fehlenden? übersehenen? verweigerten? was auch immer) Seite von mir lag. Diese Vermutung würde sogar noch dadurch gestützt werden, dass ich, nachdem ich den Entschluss gefasst hatte, mit jemand drüber zu reden, dermaßen gut gelaunt war, dass ich sogar am folgenden Morgen freiwillig und innerhalb kürzester Zeit aufgestanden bin.

Die folgende Zeit dagegen war eigentlich gar nicht schlecht. Wenn man plötzlich bemerkt, dass das Aussehen ja doch etwas ausmacht, ergeben sich in vielerlei Hinsicht neue Möglichkeiten und Denkweisen. Und Denken ist ganz klar eins meiner Hobbies.

Doch ein Lebensstil? Ein fiktiver Exkurs

Ich habe schon festgestellt, dass schwul sein kein Lebensstil ist. Aber was, wenn es doch so wäre? Wahrscheinlich würde sowas passieren:

So, nun bin ich's also, und das nur als Konsequenz aus einer fachlichen Analyse meines Images. Wie man eindeutig sieht, habe ich mit der Wahl dieser Eigenschaft nicht nur für Verwirrung gesorgt und ein völlig unkonventionelles und kaum diskutiertes Thema in den Vordergrund gerückt, sondern mir gleichzeitig zu einer besonders unkonventionellen und sich von der breiten Masse abhebenden Persönlichkeit verholfen, und wie man ja eindeutig aus dem Programm der bekannten Mainstream-Popmusik-TV-Sender erkennen kann, sind unkonventionelle und total abgehobene Prominente total angesagt (wie schon immer). Und das alles konnte ich erreichen, ohne ein einziges Mal das Wort zu erwähnen, um das es hier eigentlich geht! Da ich das auch noch mühelos bis zum Ende dieses Abschnitts durchhalten werde, bringe ich also auch Dynamik durch Sprachflexibilität rüber, wenn auch nicht so lässig und cool, wie das die meisten Prominenten können ("ich liebe es - mein Job ist hart, aber ich hab' immer noch 'nen Joke parat" oder so ähnlich - immer, wenn ich diesen Satz in der Werbepause höre, gehen meine Augen über und ich träume wieder die ganze Nacht über von der Großen Welt Der Noch Viel Größeren Stars(R)(tm)(UVP)).

Sogar im vom-Thema-abschweifen bin ich offensichtlich einer der ganz großen (aufgeblasenen) Köpfe. Aber zurück zum Thema.

Bis hier ist die Welt noch in Ordnung. Aber als heute (d.h. an dem Tag, an dem ich diesen Artikel angefangen habe, nicht an dem Tag, an dem ich damit fertig bin) einer der erwähnten Mainstream-Popmusik-TV bei der immer noch nicht abgebrochenen Suche nach gutem Fernsehprogramm plötzlich auf meinem Bildschirm erschien, wurde alles anders.

(An dieser Stelle ist eine Effektpause notwendig)

Seitdem liege ich jede Nacht schlaflos im Bett und suche fieberhaft nach einem alternativen Weg. Genau gesehen war es nur eine Nacht und ich war gar nicht im Bett und die Nacht ist noch nicht vorbei, aber die Grundidee zählt.

Es war gestern (Mitternacht ist vorbei), am 8.9. um 21:55 auf MTV. Es lief "DisMissed", eine Sendung, bei der es darum geht, dass sich zwei Leute möglichst viel gegenseitig ankeifen, damit eine dritte Person beeindruckt ist und die Person, die zuerst keift, rausschmeißt und die verbleibende Person in den Schwitzkasten nimmt. Nun hat es sich bis jetzt zufällig immer so ergeben, dass die beiden Keifenden zum gleichen Geschlecht gehören und sich die dritte Person einem anderen Geschlecht zuordnen lässt. Ich hatte bis jetzt angenommen, dass der Sendeplan das so vorsieht, aber noch nicht den Grund verstanden, warum.

In dieser einen besagten Sendung traten nun aber überraschend drei Männer auf, und es war weit und breit keine einzige Frau zu sehen.

Ich war schockiert. Nicht nur hatte ich den Sendeplan völlig falsch eingeschätzt, sondern ich merkte, dass mir auch das nicht die Frage beantworten konnte, was denn nun der Sinn der Sendung ist und warum die Regeln so abgrundtief blödsinnig sind. In meinem Schrecken schaltete ich den Fernseher schnell aus. Dabei bemerkte ich zwei Dinge:

  1. Ich hatte mich in letzter Sekunde aus den Klauen des sicheren Gehirntods gerettet.
  2. Mein unter stundenlangen Vorbereitungen entstandene Image war wohl leider doch bei Weitem nicht so einmalig, wie ich gedacht hatte.
  3. Als Folgerung aus dem vorhergehenden Punkt habe ich offensichtlich Jahrzehnte meines Lebens mit einer absoluten Zeitverschwendung verbracht.
  4. Meine Fähigkeit, die Zahl der Dinge in meinem Kopf zu zählen, wurde durch "DisMissed" stark beeinträchtigt.

Nun sitze ich hier, mitten in den Ruinen meiner Selbst und frage mich: warum nur????ßß

Warum dieser Artikel?

Ganz einfach -- ich wollte ihn schreiben. Kein Kleingedrucktes, kein Risiko, 30 Tage Rückgaberecht. Und weil ich inzwischen so müde bin, lade ich jetzt nur noch alles hoch und gehe dann in's Bett. Gute Nacht.

Dieser Artikel wurde zuletzt am 21.12.2004 geändert.

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